Abende
Jeden zweiten bis dritten Abend holten mich meine Freunde ab, mal zum Abendessen, mal zur Geburtstagsfeier von Freunden, mal einfach zu einem Abend bei ihren engen Bekanntschaften. Seit unserem ersten Besuch in Indien ist die Familie Matthews zu engen Freunden der Familie geworden, bestärkt durch gegenseitige Besuche in Indien und Deutschland. Während meiner Zeit im Waisenhaus haben sie sich um mich gekümmert wie um Familie, wofür ich immer noch dankbar bin und was mir alles natürlich erleichtert hat.
Die Mutter, Cladius, gehörte zu den Lehrerinnen der Mädchenschule, wegen der wir überhaupt zum ersten Mal nach Indien geflogen sind. Matthews, ihr Mann, ist Ingenieur und für unsere Vereinsarbeit unersätzlich, weil er sich um alles Organisatorische, d.h. auch Finanzielle, sowie um den direkten Kontakt mit den unterstützten Mädchen und Heimen kümmert. Sie wohnten zu der Zeit noch mitten in Pondicherry, in einem kleinen Haus mit ihren beiden Mädchen zusammen mit Matthews‘ Eltern und seinem Bruder samt Frau und 2 Kindern. Immer volles Haus also.
Hinduismus
Die ganze Familie ist christlich, wobei ich manchmal den Eindruck habe, dass das Christentum in Indien so etwas wie eine Verästelung des Hinduismus ist. Der Hinduismus ist mit knapp 80 % immer noch die wichtigste Religion in Indien und prägt den Alltag der meisten Inder, auch wenn sie keine Hindus sind. Wie ein Schwamm saugt der Hinduismus alles in sich auf. So wurden Buddhismus und Christentum sogar als Inkarnationen von Vishnu in den Kanon aufgenommen.
Im ausgeübten Christentum werden Jesus, Maria, Gott und die Heiligen ähnlich farbenfroh wie die Hindu-Götter dargestellt. Überall in der Wohnung unserer Freunde sind Statuen und Statuetten aufgestellt, zum Teil auch in kleinen Schreinen, die durchaus hinduistischen Charakter haben. Im Auto von Matthews baumelt statt Ganesha oder Shiva eben Maria als Schutzgöttin. Hinduismus ist ohnehin eine große Ansammlung verschiedener Religionen, die hauptsächlich durch ihren Mystizismus zusammengehalten werden. Zwar essen Cladius und Matthews im Gegensatz zu den Hinduisten Rindfleisch, aber nur sehr selten. Außerdem folgen sie immer noch manchen hinduistischen Riten (wie dem Darbringen der abgeschnittenen Haare im Tempel im Gegenzug für eine Bitte), die gesellschaftlich stark verankert sind.
Kino in Indien
Kino in Indien ist ein Erlebnis. Ihr beschwert euch, wenn hierzulande jemand im Kino spricht? Wir wär’s denn mit Tanzen, Schreien und Konfetti schmeißen?
An zwei Abenden sind wir ins Kino gegangen, einmal in ein Tamil-Remake von Ziemlich Beste Freunde, Oopiri, und ein anderes Mal in einen typischen Kollywood-Blockbuster (die Tamil-Version von Bollywood), Theri; beide Male in Tamil ohne Untertitel. Wegen ihrer sehr klaren Bildsprache und der Simpliziät der Handlung war das aber kein Problem.
Oopiri: Ein Blockbuster, der sich allein deswegen schon vom Original unterscheidet. Außerdem spielt er in Indien. Grundsätzliche Unterschiede: Die Männer sind cooler; so muss der Charakter des gelähmten Millionärs Philippe in seiner tamilischen Version auch noch ein Playboy sein. Driss bekommt das Mädchen in der Tamil-Version (die Sekretärin ist nicht wie im französischen Original lesbisch). Auch finden sich jetzt ein paar Action- und Tanzszenen, die bei einem indischen Blockbuster nicht fehlen dürfen. Insgesamt ist alles klarer, einfacher und kitschiger, inklusive des vollkommenen Happy-Ends.
Theri: Ein typischer Action-Streifen, der brutale Action mit einfühlsamen (Tanz-)Szenen abwechselt. Getragen wird er vom Hauptcharakter Vijay, einem der drei großen Superstars Kollywoods. Man findet ihn überall, auf Auto-Rickshaws, auf Facebook-Profilbildern und auf aller Art von Postern (die Leute drucken Poster zu allen möglichen Anlässen, Geburtstagen, Hochzeiten, Tode und hängen sie auf, wo es gerade passt). Der Kinobesuch war ein Erlebnis, das man sich hierzulande kaum vorstellen kann. Als Vijay zum ersten Mal auf der Leinwand erscheint, ist die Menge förmlich explodiert (den Moment habe ich in dem Video festgehalten). Ich empfehle jedem, der nach Indien reist, mal in ein Kino zu gehen, um die Party mitzuerleben.
Zurück ins Heim
Die Abende mit der Familie Matthews haben mir immer neue Aspekte der südindischen Gesellschaft gezeigt, haben immer Spaß gemacht und mir einige schöne Erinnerungen hinterlassen. Aber ich war ja wegen des Waisenhauses hergekommen, um das Heim und die Kinder und alles drumherum kennenzulernen. Also habe ich die meisten Abende im Heim verbracht, auch wenn Cladius und Matthews mich jeden Abend ausgeführt hätten, den ganzen Monat lang, in ihrer grenzenlosen Gastfreundlichkeit.
Die Abende im Heim verliefen meist ähnlich: Üblicherweise wurde gelernt, etwas gespielt, gebetet, gelernt, gegessen. Nach den abendlichen Reinigungsarbeiten gingen die Jungs dann gegen 11 ins Bett. Ich ging meistens nicht viel später in mein Zimmer, las dann noch oder schrieb, ab und zu mit einem kalten Bier, das Matthews mir vorbeigebracht hatte..
Regelmäßig kamen Wohltäter aus der Umgebung mit Abendessen ins Heim (diese Spenden sind wegen der begrenzten Geldmittel des Heims sehr wichtig). Dann kam meistens gleich die ganze Familie inklusive Freunden in Autos und Auto-Rickshaws angedüst; das Essen wurde aufgestellt, sie verteilten es, machten viele Photos und düsten oft ziemlich schnell wieder ab. An mir, dem weißen Gast, zeigten die meisten Leute durchaus reges Interesse, was häufig zu halb-gebildeten Gesprächen führte, häufiger zu den üblichen platten Gesprächen über Herkunft und Profession. Ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt jemand wirklich verstand, was Kunstgeschichte ist und, noch problematischer, wieso ich das studiere (hier ist es oft schon schwer, den Leuten das verständlich zu machen). Ich weiß nicht, ob es das Fach in Indien überhaupt an den Universitäten gibt, im Süden zumindest nicht. Die naturwissenschaftlichen und technischen Fächer genießen weitaus größere Popularität und Ansehen als die geisteswissenschaftlichen Fächer; auch aus dem einfachen Grund, dass die Studenten damit in der indischen Gesellschaft eher einen Job finden. Insbesondere Informatik ist sehr beliebt, im Gegensatz zu Deutschland auch bei den Mädchen.
Pondicherry University
Das Heim liegt direkt an einer Mauer, die um das riesige Universitätsgelände der Pondicherry University gezogen ist. Beinahe täglich kamen Studenten zu Besuch ins Heim, meistens aus einer Gruppe christlicher Studenten aus dem Nachbarstaat Kerala; Leila und Tojo gehörten der gleichen christlichen Organisation an, als sie noch in Kerala lebten.
Die Studenten waren so etwas wie gute Freunde des Hauses; meistens erzählten sie mit Leila, aßen etwas, spielten mit den Kindern, brachten häufig ebenfalls Essen mit (von ihrem eigenen Geld bezahlt) und halfen den älteren Jungs beim Lernen für ihre Prüfungen, mitunter stundenlang.
Drei Studenten kamen sehr regelmäßig und regelmäßig habe ich mich dann auch mit ihnen unterhalten. Jithin, ein Student aus Kerala, hatte mir schon mehrmals angeboten, mir die Universität zu zeigen. An einem Abend, als die Jungs gerade ins Bett gegangen waren, hat er gemeint, los, lass uns in die Uni fahren. Leila hat gelächelt und gesagt, sie würde mir die Türe auflassen. Also habe ich mich hinter Jithin auf den Roller geschwungen und Leila eine gute Nacht gewünscht.
Vor der Universität haben wir dann die beiden anderen Studentinnen, die regelmäßig ins Heim kommen, getroffen und die drei haben dann noch in einem kleinen Lokal gegenüber dem Eingang der Uni zu Abend gegessen. Mein Appetit war in Indien immer mäßig, also habe ich nur neben ihnen gesessen und die Tische voller Studenten beobachtet, die hier zu so später Stunde noch ihr günstiges Abendmahl zu sich nahmen. Alles ohne Hektik oder Stress oder Auge auf die Uhrzeit.
Universitätsstadt bei Nacht
Nach kurzer Vorstellrunde mit Freunden von meinen Guides dann wieder auf die Roller. Wir passierten ohne Probleme das von Securities bewachte Eingangstor (eigentlich dürfen nur Studenten aufs Gelände, aber es gibt auch ein paar ausländische Studenten; sonst wäre ich als Weißer wohl aufgefallen) und düsten, Roller neben Roller, in die Universitätsstadt hinein. Ich sage Stadt und meine Stadt; komplett von Mauern umgeben, mit eigenem Supermarkt, Krankenhaus, Gebetsstätten und mehreren Wohnhäusern (Hostels genannt), braucht man als Student die Uni eigentlich gar nicht mehr zu verlassen. Die Großzahl der Studenten wohnt auch auf dem Campus, Frauen und Männer im Gegensatz zu vielen größeren Städten Indiens in unterschiedlichen Gebäuden (es gab auch geschlechtergetrennte Fitnesscenter). Selbst der Besuch in den andersgeschlechtlichen Unterkünften ist verboten.
Entgegen meiner Erwartung war die Universität nicht verlassen, ganz im Gegenteil: Überall saßen Gruppen von Studenten auf den Wiesen, um die Unigebäude herum und vor den Wohnhäusern und lernten, erzählten, brachten Zeit ‚rum. Alles war eigentlich viel zu still für so viele Menschen, alles gedämpft, friedlich und deswegen irgendwie magisch. Wie eine Gegenwelt zum hektischen indischen Alltag.
Wir fuhren dann zum Gebäude der Sozialwissenschaften, in dem meine Begleiter studierten. Dort machten wir es uns auf der Dachterrasse bequem; sie spielten mir Musik aus Kerala und Tamil Nadu vor (meist sehr harmonische, gut gelaunte und stark rhythmische Musik), ich ihnen Buena Vista Social Club und wir sprachen über Gott und die Welt. Später fuhr mich Jithin dann zurück ins Heim, wo ich mich, immer noch von der Atmosphäre der Universitätsstadt angetan, schlafen legte.
Ein paar Tage drauf nahm er mich auch bei Tage mit an die Uni, als zwar alles etwas lauter und heller war, die Atmosphäre aber immer noch sehr harmonisch war.
Altenheim Snehagram
Bis vor zwei Jahren lebten in Tojos Heim auch eine Gruppe pflegebedürftiger Erwachsener mit den Jungs zusammen, die meisten körperlich oder geistig geschädigt; von Elefantenfüßen und Depressionen hin zu bettlägerigen Patienten und Autisten. Aus Platzgründen allerdings (im Heim ist es auch nur mit den Jungs schon recht eng) wurden sie dann auf ein großes Grundstück in einem kleinen Dorf weiter im Landesinneren verlegt. Tojo hatte seine Patienten zum Teil gebracht bekommen, zum Teil hat er sie auch auf der Straße leben gesehen, sie nach ihrer Geschichte gefragt und sie dann mitgenommen und sich um sie gekümmert.
Alten- und Kinderheim sind immer noch eng miteinander verbunden. Leila fährt regelmäßig mit den Kindern nach Snehagram und Sunu beinahe täglich, auch um Essen hinzubringen. Leiter des Heims ist John, der mir manchmal selbst ein wenig verrückt vorkam, im sehr positiven Sinne.
Häufig bin ich auch mit Sunu, ohne die Kinder, zu den Alten gefahren. Das erste Mal wusste ich zunächst nicht, wie ich mich verhalten soll; viele der Patienten sind geistig abwesend und blicken einen aus verschleierten Augen heraus an. Ich habe mich ihnen vorgestellt, mich mit ihnen unterhalten, etwas über ihre Schicksale erfahren und sie so normal wie möglich behandelt. Die meisten von ihnen haben viele Stationen hinter sich und irgendwo noch Familien, die aber meistens nicht mehr von ihren Ehemännern, Ehefrauen, Kindern, Eltern hören wollen.
Den Großteil ihrer Zeit verbringen die Alten auf einer großen Plattform, die zentral zwischen Wohngebäuden und Sanitäranlagen steht und von einem Palmendach von der Sonne geschützt wird. Sie spielen Karten, schauen Fernsehen oder sitzen auch einfach nur da und scheinen sehr zufrieden damit.
Abschied
Wie immer auf Reisen hatte ich einerseits das Gefühl, erst kurz dagewesen zu sein, andererseits konnte ich mich an das Leben in Deutschland kaum noch entsinnen; alles war sehr weit weggerückt in dem einfachen Alltag unter der indischen Sonne. Die letzte Woche ging schneller herum als mir lieb war; gleichzeitig freute ich mich wieder darauf, heimzukommen. Am meisten freute ich mich auf das Essen; Döner! Steak, Spaghetti, Burger, deutsches Brot! Und keinen Reis für ein paar Wochen.
Ein Satz, den ich an einem Morgen unter dem Deckenventilator gelesen habe, hat mich, auch, nachdem ich heimgekommen bin, nicht losgelassen: „While life is yours, live joyously!“, von dem materialistischen indischen Philosophen Carvaka –
Als Cladius und Matthews mich um 8 Uhr abends im Jungenheim abholten, um mich zum Flughafen zu bringen, ist mir der Abschied von Leila und den Jungen zwar nicht einfach gefallen, aber für mich war der Zeitpunkt zur Heimkehr gekommen. Ich wusste vorher, dass ich zum Sozialarbeiter nicht taugen würde, und so war ein Monat im Waisenhaus für mich genau die richtige Zeitspanne. Voller neuer Energie und Lebenskraft habe ich also Abschied genommen und mich zurück in mein Leben gemacht.
– Ich fühlte mich nach meiner Heimkehr nicht nur körperlich erholt, sondern vielmehr geistig gereinigt. Konfrontiert mit all den Schicksalen, den Verhältnissen, den Wünschen und Ansprüchen der ganz anderen, bescheideneren Welt der Waisenjungen sind all die Kleinigkeiten, die einen im deutschen Alltag herumtreiben, die ganzen kleinen Sorgen, die einem im Nacken sitzen, beinahe lächerlich. Wenn man sie sich erst bewusst vor Augen hält und abwägt, was man alles hat, was einem Freude bereiten sollte; und ich rede hier nicht von deinem Porsche, deinen Designerkleidern, deinem Flachbildschirm, sondern dem, was du wirklich hast: die Möglichkeit, unbeschwert zu leben, regelmäßiges Essen, eine behütete Kindheit, Komfort und Sicherheit; kann man sich diesen Kleinigkeiten direkt stellen und sie mit Tatkraft aus dem Weg schaffen. Wieso schlecht gelaunt sein, sich um alles sorgen und sein Leben auf diese Weise lustlos und angespannt leben, solange du am Leben bist? So live joyously!